Traditionelle Kalkulationsverfahren berücksichtigen keine Unterschiede zwischen Standard- und exotischen Produkten, hohem oder niedrigem Verwaltungs- und Koordinationsaufwand, Groß- oder Kleinauftrag, aufwendigem oder einfachem Vertriebsweg etc. Die Verrechnung der Gemeinkosten durch prozentuale Zuschlagssätze auf Basis der Material-, Fertigungs- oder Herstellkosten steht in keinem Zusammenhang zum Aufwand, den die Produkte im indirekten Bereich verursachen (Gemeinkostenmanagement). Durch die Vernachlässigung der Unterschiede im relativen Verbrauch an Gemeinkostenressourcen führt die Zuschlagskalkulation zu verzerrten Produktkosten.
Beispielsweise werden durch die Verwendung pauschaler Zuschläge auf Wertbasis seltene Sonderprodukte mit geringen Materialeinzelkosten, die in den indirekten Bereichen aber einen hohen Aufwand verursachen, vergleichsweise mit zu geringen Gemeinkosten belastet, während unkomplizierte Standardprodukte mit hohen Materialeinzelkosten einen zu hohen Gemeinkostenteil zu tragen haben. Auf Basis dieser Ergebnisse drohen produktpolitische Fehlentscheidungen, da eine realistische Beurteilung des Erfolgsbeitrags der einzelnen Produkte nicht möglich ist. Beispielsweise könnte man zu der Entscheidung gelangen, dass eine weitere Förderung der Sonderprodukte und eine geringere Produktion von Standardprodukten die richtige Strategie zur Erhöhung des Gewinns sei. Da aber in Wirklichkeit die Sonderprodukte durch die Standardprodukte subventioniert werden, ist bei Realisierung einer solchen Strategie statt mit einer Gewinnerhöhung mit drastischen Einbußen zu rechnen.
Mit Hilfe der prozessorientierten Kalkulation sollen den Produkten die Kosten der Prozesse zugerechnet werden, die sie in den indirekten Bereichen ausgelöst haben. Auf diese Weise soll einem der wichtigsten Prinzipien der Kostenverrechnung, der Verursachungsgerechtigkeit, besser entsprochen werden, um strategische Fehlentscheidungen zu vermeiden. Man bezeichnet die prozessorientierte Kalkulation deshalb teilweise auch als strategische Kalkulation. Diese Bezeichnung weist auch darauf hin, dass der Betrachtungszeitraum der prozessorientierten Kalkulation mittel- bis langfristiger Natur ist und sich weniger für kurzfristige Produktionsentscheidungen eignet.
In Bezug auf die Ausgestaltung der prozessorientierten Kalkulation existieren unterschiedliche Ausprägungsformen:
Bei der prozessanalogen Kalkulation amerikanischer Prägung werden alle Gemeinkosten mit Hilfe der Cost Driver auf die Produkte verrechnet. Die notwendige Voraussetzung, dass für sämtliche Kosten ein direkter Produktzusammenhang hergestellt werden kann, ist in der Praxis jedoch zumindest für einen Teil der Kosten nicht erfüllt.
Bei der prozessorientierten Zuschlagskalkulation handelt es sich um eine Zuschlagskalkulation, bei der die Zuschlagssätze nicht auf Basis der bekannten Wertgrößen, sondern aufgrund prozessualer Aspekte wie z.B. des Komplexitätsgrades gebildet werden. Die Produkte werden in homogene Gruppen eingeteilt, für die dann ein einheitlicher Zuschlagssatz verwendet wird. Auf diese Weise soll zumindest in grober Form dem Gedanken der prozessorientierten Kostenrechnung entsprochen werden. Gegen dieses Verfahren spricht jedoch je nach Differenzierungsgrad entweder der geringe Informationsgewinn oder der hohe Durchführungsaufwand.
In der Praxis hat sich eine Kombination beider Ansätze bewährt, d.h. eine prozessorientierte Ergänzung der Zuschlagskalkulation. Dabei wird ein Teil der Gemeinkosten prozessanalog durch Verwendung von Prozesskostensätzen und die restlichen Gemeinkosten mit Hilfe von (prozessorientiert bestimmten oder traditionellen) Zuschlagssätzen verrechnet. Auf diese Weise können die Vorteile beider Verfahren genutzt werden und der zusätzliche Aufwand der prozessorientierten Kalkulation lässt sich in Grenzen halten. Von diesem Verfahren soll auch im Folgenden ausgegangen werden.
Im Hinblick auf die prozessorientierte Kostenträgerstückrechnung sind drei Prozesskategorien zu unterscheiden:
Vorleistungsprozesse beinhalten administrativ-planerische Tätigkeiten im Rahmen der Produktentwicklung, die nicht über Projekt- oder Auftragsnummern den Entwicklungsaufträgen zugeordnet werden. Kostenträgerbezogen sind die Kosten dieser Prozesse wie Entwicklungskosten zu behandeln.
Betreuungsprozesse umfassen alle Aktivitäten, die im Zusammenhang mit der Pflege eines Kostenobjekts (Produkt, Bauteil, Lieferant, Kunde) anfallen. Im Rahmen der Kalkulation sind die Kosten für Betreuungsprozesse auf die durchschnittliche Stückzahl pro Jahr zu verrechnen, um den Stückkostenbetrag zu ermitteln.
Abwicklungsprozesse umfassen alle logistischen und administrativen Tätigkeiten. Die anfallenden Kosten sind immer auf die Abwicklung eines Beschaffungs-, Produktions- oder Vertriebsauftrags bezogen und sind bei der Kalkulation durch die Losgröße zu dividieren.
Bei der prozessorientierten Kalkulation werden die Gemeinkosten mit Hilfe der Hauptprozesskostensätze — in Abhängigkeit von der jeweiligen Inanspruchnahme — den Produkten bzw. anderen Kostenobjekten zugeordnet. Die prozessorientierte Ergänzung wird dabei auf jeder Kalkulationsstufe vom Material über Hausteile und Baugruppen bis zum Endprodukt durchgeführt. Die zur Verrechnung verwendeten Prozesskostensätze werden jährlich geplant und unterjährig nicht mehr verändert, um Schwankungen der Produktkosten in Abhängigkeit der Auslastung der Gemeinkostenbereiche zu vermeiden. Die prozessorientierte Kalkulation kann dabei als einzelfallbezogene Nebenrechnung oder als Ersatz der bisherigen Kalkulation eingesetzt werden.
Die Abbildung zeigt die generelle Behandlung der Kostenbestandteile in der prozessorientierten Kalkulation. Einzelkosten (Material, Löhne etc.) werden wie bisher den Kostenträgern direkt zugerechnet. Die Kosten der indirekten Bereiche, die einer prozessorientierten Verrechnung zugänglich sind, werden mit Hilfe der Hauptprozesskostensätze je nach erfolgter Inanspruchnahme mit Hilfe der Cost Driver auf die Kostenträger verrechnet. Zu beachten ist, dass es sich bei den Hauptprozesskostensätzen um Gesamtprozesskostensätze handelt, die somit auch einen Anteil an leistungsmengenneutralen Kosten enthalten.
Die leistungsmengenneutralen Kosten wurden den in dem Hauptprozess enthaltenen Teilprozessen proportional zu deren leistungsmengeninduzierten Kosten zugeordnet. Die leistungsmengenneutralen Kosten werden somit also nur indirekt auf die Kostenträger verrechnet. Zur Erhöhung der Verursachungsgerechtigkeit können bei der Verrechnung der Prozesskosten zusätzlich Äquivalenzziffern, die beispielsweise von der Prozesskomplexität abhängig sind, Verwendung finden. Durch die Aufteilung der Prozesskosten in einen volumen- und variantenabhängigen Anteil, ist darüber hinaus auch eine Variantenkalkulation durchführbar. Die Prozesskosten werden in der Kalkulation getrennt ausgewiesen und können so je nach Entscheidungssituâtion einbezogen werden. Der Teil der Gemeinkosten, der einer prozessorientierten Behandlung aufgrund fehlender Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nicht zugänglich ist, wird mit Hilfe von produkt-, auftrags- oder kundenspezifischen Zuschlagssätzen verrechnet.
Eine prozessorientierte Ergänzung der Kalkulation führt zu nachfolgenden drei Effekten, die zur strategiegerechten Gestaltung des Produktprogramms genutzt werden können. Man bezeichnet diese Effekte deshalb auch als den strategischen Informationsvorteil der Prozesskosten(trägerstück)rechnung.
Allokationseffekt: Da bei der prozessorientierten Kalkulation die Zuordnung (Allokation) der Gemeinkosten auf die Produkte nach der Inanspruchnahme der betrieblichen Ressourcen erfolgt und so eine proportionale Verrechnung von Gemeinkosten in Abhängigkeit wertorientierter Zuschlagsbasen (wie z.B. Material- oder Lohneinzelkosten) vermieden wird, entstehen im Vergleich zur Zuschlagskalkulation Differenzen bei den verrechneten Gemeinkosten.
Komplexitätseffekt: Die durch die unterschiedliche Produktkomplexität hervorgerufenen Unterschiede zwischen Zuschlagskalkulation und prozessorientierter Kalkulation werden als Komplexitätseffekt bezeichnet. Die bei der Zuschlagskalkulation zu beobachtende zu hohe Kostenbelastung von Produkten mit niedriger Komplexität zugunsten von Produkten mit sehr hoher Komplexität tritt bei der prozessorientierten Kalkulation nicht auf. Aus dem Komplexitätseffekt abgeleitete Maßnahmen zielen häufig auf die Senkung der Variantenzahl und die Bereinigung des Produktprogramms.
Degressionseffekt: Bei der prozessorientierten Kalkulation wird berücksichtigt, dass der Aufwand mancher Prozesse mengenunabhängig anfällt. So ist z.B. der Aufwand für den Prozess der Auftragsannahme nicht von der bestellten Stückzahl eines Produktes abhängig. Mit steigender Bestellmenge ergibt sich somit ein degressiver Verlauf der Kosten des Prozesses „Auftragsannahme“ je Stück. Die zu geringe Kostenbelastung von Aufträgen mit niedrigen Stückzahlen bzw. die zu hohe Kostenbelastung von Großaufträgen bei der Verwendung wertmäßiger Zuschlagsbasen (z.B. des bestellten Warenwertes) wird somit vermieden. Aus der Kenntnis des Degressionseffektes lässt sich z.B. eine Mindestauftragsgröße ableiten, ab der eine Auftragsannahme vorteilhaft ist.
In den prozessorientiert ermittelten Herstellkosten wird deutlich, ob sich die Prozesskosten einer Variante auf eine große oder kleine Losgröße verteilen, ein Produkt aus vielen oder wenigen Teilen besteht oder in einer großen oder kleinen Zahl von Fertigungsstufen hergestellt wird. Die Ergebnisse der prozessorientierten Kalkulation liefern somit nicht nur auf der Produktebene wichtige Informationen, sondern beispielsweise auch für Fragen der Eigenfertigung oder des Fremdbezugs unter Berücksichtigung der Prozesskosten aus der Beschaffung und Logistik. Eine kundenauftragsbezogene Kalkulation kann sich der prozessorientierten Herstellkostenkalkulation anschließen und zur Beurteilung der Rentabilität einzelner Kunden oder Aufträge dienen.